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2022-02-19 07:15:24, Jamal Tuschick

Vorbewusste Welträume

Der niederländische Kapitän Abel Tasman bezeichnete die begehbaren Flächen im Pazifik als vorbewusste Räume der Welt. Er fand schlafende Länder, Stein- und Traumzeitreservate, die der Empfindung Vorschub leisteten: in einer anderen Zeit gelandet zu sein. Er passierte Inselflure und beschrieb sie als poly nēsoi. 1642 erreichte Tasman Neuseeland, nachdem er das seit der Antike sagenhafte Südland (terra australis) umfahren hatte. Er segelte für die Dutch East India Company von Batavia aus, wieder ging es um schiffbare Durchgänge und Abkürzungen. Europäer:innen stellten den „Austral…” auf die niedrigste Zivilisationsstufe. Ihnen gelangen Herabsetzungen sogar in Vergleichen mit den Herabgesetzten Afrikas.

Nur dreißigtausend ursprüngliche Australier:innen überleben die britische Invasion im ersten Durchgang von 1778 bis 1805. Ihnen begegneten die Verdammten Großbritanniens. Vornehmlich waren es junge Leute aus Elendsquartieren. Die Krone exportiert den Youth Bulge.

Ozeanische Vergesslichkeit

Der amerikanische Entrepreneur Robert A. Cunningham (1837-1907) präsentierte Aborigines in „Völkerschauen“ als australische Anthropophagen.

Alexander Kluge, „Zirkus / Kommentar“, mit vielen farbigen Abbildungen, Suhrkamp, 28,-

„Insgesamt zwei Gruppen führte Cunningham zu ihrem Siegeszug in Europa. Zur zweiten Gruppe gehörten Jenny, King Bill und King William II.“

So beschreibt Alexander Kluge die maximale Exploitation sogenannter „Wilder“. Der Autor verkoppelt den kolonialen Hochmut des Unternehmers Cunningham mit historischen Ereignissen in seiner Geburtsstadt Halberstadt.

„Sieben Jahre vor der Geburt meines Vaters, also in einer Zeit außerhalb meiner eigenen Lebenserfahrung, stellte im März 1885 … Cunningham eine von ihm zusammengestellte Gruppe von Eingeborenen aus Australien … im Hotel Kaiserhof vor.“

Plakatierte Echtheitszertifikate „beweisen“ die Richtigkeit schillernder biografischer Angaben. Vermutlich besaßen die Ausgestellten den weltweit höchsten Schauwert. Ihre Präsentation als (der Legende nach) lebensgefährliche, über Nacht in Ketten liegenden Kannibalen, lässt die afrikanische Exotik offenbar hinter sich.

Fama der Ursprünglichkeit

„Rudolf Virchow, die anatomische Ikone der Humboldt-Universität“, nimmt die „Raritäten“ wissenschaftlich in Augenschein. Alle möglichen Koryphäen steigern den Nimbus der Vorgeführten. Deren Inszenierung liegt eine Choreografie von Cunningham zugrunde. Die Authentizität ist eine Chimäre am Horizont der Hochstapelei.

„Pro Tag (sahen) tausend Besucher die Show.“

Kluge führt aus. Halberstadt fungiert als Kapitale des Kurbetriebs an einer Harzpforte. Ein erhebliches Aufkommen von Heilstätten garantiert Cunningham ein großes Publikum. Er etabliert sein Geschäft an der weit und breit besten Stelle. Er betreibt es mit geschundenen Seelen. Die ihm wie Leibeigene zur Verfügung Stehenden irrlichtern traumatisiert durch die Galaxien der Moderne. Sie entstammen einem Clan, der in rasend schnell abgelaufenen Vernichtungsprozessen „aus der sichtbaren Welt Australiens getilgt“ worden war.

„Während des ganzen Jahres verfolgten die berittene Polizei, die aus Eingeborenen konkurrierender Stämme der Aborigines rekrutiert war, sowie einige Siedler, den Halifax-Bay-Clan. Der aufmerksame Pfarrer und ein Unteroffiziersinspektor konnten die Gruppe, die sie hüteten, nicht Tag und Nacht schützen. Bald war der Stamm infolge von Erschießungen, Masern, anderen Krankheiten und Alkoholkonsum …“

„Cunningham besaß die berufsmäßigen Wilden nicht als Sklaven … (er hatte) das ausschließliche Nutzungsrecht.“

Ozeanische Vergesslichkeit

Manches Land wird in den Jahrhunderten zwischen Magellan und Cook mal von dieser, mal von jener europäischen Macht entdeckt und manchmal mehr als einmal von derselben. Australien ist bereits im 16. Jahrhundert ein europäisches Ziel, bleibt aber zweihundert Jahre lang Niemandsland in der europäischen Perspektive. Es gibt eine ozeanische Vergesslichkeit, die einsetzt, wenn kein Missionseifer und keine wirtschaftlichen oder strategischen Interessen Engagement fordern, wenn nicht Eifersucht und Konkurrenz zwischen Staaten der Alten Welt stimulierend wirken. Manchmal reicht ein missglückter Besiedlungsversuch, um eine Insel von der Karte zu nehmen.

Der niederländische Kapitän Abel Tasman bezeichnete die begehbaren Flächen im Pazifik als vorbewusste Räume der Welt. Er fand schlafende Länder, Stein- und Traumzeitreservate, die der Empfindung Vorschub leisteten: in einer anderen Zeit gelandet zu sein. Er passierte Inselflure und beschrieb sie als poly nēsoi. 1642 erreichte Tasman Neuseeland, nachdem er das seit der Antike sagenhafte Südland (terra australis) umfahren hatte. Er segelte für die Dutch East India Company von Batavia aus, wieder ging es um schiffbare Durchgänge und Abkürzungen.

Aus der Ankündigung

Seit frühester Kindheit ist der Zirkus für Alexander Kluge ein Faszinosum und ein Phänomen seiner Zuwendung, die sich über sein filmisches Werk (Die Artisten in der Zirkuskuppel, ratlos) bis in die jüngsten seiner literarischen Arbeiten erhalten hat. In ihm findet er das »Schattenbild der Arbeit« und zugleich das Inbild menschlicher Spitzenleistung von Liebe über Krieg bis zur Revolution. Denn die im Zirkus vorgeführten Leistungen sind Projektionsflächen von Utopien, bieten ein fassliches Bild für Entwicklungen der Zivilisation mit ihren fast unendlichen Möglichkeiten und zwischenzeitlich unvermeidlichen Abstürzen – gleich ob der Beifall aufrauscht oder die Artisten auf dem Boden der Manege ihre Glieder zählen.

In Wortfeldern, Bildern und Filmsequenzen (QR-Codes) öffnet sich auf 200 Seiten ein breites Panorama, in dem sich ratlose Artisten und hochdiffizil operierende Chirurgen ebenso tummeln wie die Kampfpiloten im Zirkus der Lüfte, allmachtstrunkene Sansculotten und nicht zuletzt: die Tiere, deren übermenschlichen Leistungen zwischen Dressur und Flucht dieses Buch ein bleibendes Denkmal setzt.

Zum Autor

Alexander Kluge, geboren 1932 in Halberstadt, ist Jurist, Autor, Filme- und Ausstellungsmacher; aber: »Mein Hauptwerk sind meine Bücher.« Für sein Werk erhielt er viele Preise, darunter den Georg-Büchner-Preis und den Theodor-W.-Adorno-Preis, Heinrich-Heine-Preis der Stadt Düsseldorf und 2019 den Klopstock-Preis der Stadt Halberstadt.

»Ich bin und bleibe in erster Linie ein Buchautor, auch wenn ich Filme hergestellt habe oder Fernsehmagazine. Das liegt daran, daß Bücher Geduld haben und warten können, da das Wort die einzige Aufbewahrungsform menschlicher Erfahrung darstellt, die von der Zeit unabhängig ist und nicht in den Lebensläufen einzelner Menschen eingekerkert bleibt. Die Bücher sind ein großzügiges Medium und ich trauere noch heute, wenn ich daran denke, daß die Bibliothek in Alexandria verbrannte. Ich fühle in mir eine spontane Lust, die Bücher neu zu schreiben, die damals untergingen.«
Alexander Kluge (Dankesrede zum Heinrich-Böll-Preis, 1993)