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2018-10-30 07:44:16, Jamal Tuschick

Eine Geschichte der Gastarbeit in Osthessen X. Folge

Das Handbuch der europäischen Schuhindustrie

Der auf einem osthessischen Knick in einer Enge zwischen Thüringen und Franken ansässige Unternehmer Amiran Vanilisi beschäftigt fast ausschließlich Migranten in seiner Fabrik für Schuhbodenteile. Seine Vorfahren flohen von einem Ufer zum anderen aus Georgien in die Türkei und bildeten da die nicht anerkannte Minderheit der Lasen. Das sind in der Mehrzahl sunnitische Muslime, vereinzelt auch orthodoxe Christen. Die kulturellen Trennlinien verlaufen umgekehrt proportional zu den Demarkationen zwischen den christlichen und den muslimischen Armeniern (Hemşinli), die sich in den gleichen Gebieten ausdifferenziert haben. Amirans Vorfahren stammen bis zur Generation seiner Eltern ausnahmslos aus der Provinz Düzce. Obwohl sie mit keiner markanten Ethnie auf dem Staatsgebiet der Türkei verwandt sind, nimmt man sie als Türken wahr.

Als Unternehmer brach mein Vater zweimal ein. Anfang der Neunziger wurde die europäische Schuhindustrie zum Schauplatz eines Massensterbens. Vater erlebte einen Markt in Agonie. Seine Partner in Osteuropa gingen reihenweise in die Insolvenz. Die planwirtschaftliche Vollbeschäftigung funktionierte von jetzt auf gleich nicht mehr. So endete eine Erfolgsgeschichte. Vater hatte in den Achtzigerjahren in Düsseldorf den ersten Vertrag mit einem polnischen Staatsbetrieb abgeschlossen. Von da an belieferten wir einen Betrieb in der Oberschlesischen Industrieregion (polnisch Górnośląski Okręg Przemysłowy) mit thermoplastischem Kautschuk, der dem Kriegswaffenkontrollgesetz unterworfen war. Die Sache war so heikel, dass Ausschuss versiegelt zurück in den Westen geschafft werden musste. Unser Partnerbetrieb hatte die Ausmaße einer Stadt. Seine Versorgungszentren wurden während der Arbeitszeiten genutzt, bis 1992 sechsunddreißigtausend auf einen Schlag entlassen wurden. In den frühen Neunzigerjahren liquidiert der Ostblock eine Industrie, die in erster Linie der Devisenbeschaffung gedient hatte.

Wir bekamen von den Verwerfungen erst einmal nichts mit. Wir lieferten noch Material in ein Katastrophengebiet, als es da schon keinen Mann mehr zum Einlagern gab. Der thermoplastische Kautschuk wurde abgekippt und verrottete auf stillgelegtem Werksgelände.

Im Nachgang bewältigten zweiundeinhalbtausend Leute im Pfälzer Wald das Pensum der sechsunddreißigtausend Kollektivisten. Keiner ging in seiner Arbeitszeit zum Friseur oder ließ sich auf Betriebskosten die Nägel machen oder umging die Engpässe einer Mangelwirtschaft im betriebseigenen Supermarkt.

Der Fleiß nutzte nichts. Die Pfälzer verloren ihre Arbeitsplätze an Inder und Chinesen. Vor allem in Indien definierte man billig neu nach Grundsätzen von Sklavenhaltergesellschaften mit Kinder- und Heimarbeit ohne Arbeitsschutz und Sozialkosten. Ein Branchenriese bot mir die Verlegung von Mainschuh nach Tamil Nadu an. Jede Menge europäische Markenhersteller lassen in dem indischen Bundesstaat produzieren.

Ich habe mir die Verhältnisse vor Ort angeguckt, die absolute Armut im Gestank von Gerbereien. Das ist nichts für mich. Ein Konkurrent ließ sich aufkaufen und als Geschäftsführer einsetzen. Der eingegliederte Betrieb ging in einer größeren Struktur auf und das mitgebrachte Wissen diffundierte in verschiedene Richtungen. Im Grunde war das eine Selbstenteignung.

Eine Frau kauft Schuhe, die ihr gefallen. Sie stellt die Ästhetik über den Nutzen. Überlegungen zu Gesundheit und Bequemlichkeit werden zurückgedrängt, aber nicht außer Acht gelassen. Die Schuhe sollen auch passen und halten. Das Herzstück jeder Schuhfabrik ist deshalb die Modellabteilung.

Vater beschäftigte einen Modelleur, der außerdem für einen großen Hersteller arbeitete. Er steckte uns die neusten Trends. Das gehörte zu seinen Aufgaben. Die Schuhindustrie braucht für vier Kollektionen pro Jahr dynamische Zulieferer. Die Doppelrolle des Modelleurs gestattete uns plötzliche Anpassungen von Fußbettformen an den letzten Schrei der Saison.

Um 1950 kostete ein Lloyd Schuh einhundertzwanzig Mark. Der Preis entsprach dem Wochenlohn eines gelernten Arbeiters. Solange Schuhe teuer waren, mussten Spontan- und Begeisterungskäufe einer Qualitätsnorm genügen, die eine kritische Konsumentin zufriedenstellte.

Metro und Aldi starteten in den Neunzigern einen Unterbietungswettbewerb und schlugen den Fachhandel nach den Regeln der Discounter. Sie schufen neue Gleichungen. Für das Geld passt der Schuh. Dafür hat er lange genug gehalten. Diese Einstellungen griffen die Lebenszeit eines Schuhs an. Sie machten ihn zur verderblichen Ware und zum Modeartikel.

Die Geschichte der Gastarbeit muss noch geschrieben werden

Sie saßen unter einer Markise im Wirtshausgarten, ein verregneter Nachmittag dampfte im plötzlichen Einfall von Licht. Die Aschenbecher waren abgesoffen. Die Gegend war im Niedergang und im Kommen schon zig Mal gewendet worden. Der Aschaffenburger Fuhrmann Anton Schlosser erzählte wie so oft von seinen Pfälzer Urgroßeltern.

In seiner Kindheit waren alte Leute Überlebende des 19. Jahrhunderts gewesen. Sie hatten den Steckrübenwinter von neunzehnfünfzehn mitgemacht und das Inflationsgeld von Dreiundzwanzig in Weidenkörben davongetragen. Im Dritten Reich waren sie zu alt für alles außer Leid gewesen.

Schlosser bezweifelte, dass sein Vorarbeiter, den er Ali nannte, ihm folgen konnte. Vanilisi wirkte emotional leblos. Er war ein knotiger, knochiger Typ, verbohrt und durchtrieben. So jedenfalls sah ihn der Chef. Schlosser hatte nach Krieg und Gefangenschaft als Fuhrmann weitergemacht – als selbstfahrender Unternehmer mit wenigen Angestellten. 1951 kaufte er einem hessischen Bauern eine Wiese ab und zog darauf einen Behelfsbau hoch, in dem er 1952 anfing, Holzabsätze für die Pirmasenser Schuhindustrie herzustellen. Zehn Jahre später glich seine Fabrik einer Festung. Man nannte sie den Kasten. Die ersten italienischen, spanischen, portugiesischen und türkischen Gastarbeiter verdrängten das örtliche Prekariat. Anspruchslosigkeit war Trump – und keiner war anspruchsloser, beständiger, fleißiger, findiger und ergebener als Ali. Er trat nach unten, zeigte sich bissig gegenüber den Kollegen.

Er hatte ein seltsames Aufsteigerprofil, eine intransigente Intelligenz. Er witterte jahrelang Morgenluft, während Schlosser seine Söhne zerstörte. Er wollte nicht, dass sich einer ins gemachte Nest setzte, nur weil er ihn gezeugt hatte. Nun übergab er Ali das Handbuch der europäischen Schuhindustrie mit dem Gefühl, sein Lebenswerk verloren zu geben.

Das war 1974.