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2021-05-23 04:12:36, Jamal Tuschick

„Die meisten Italiener (wussten) nichts von Südtirol. Kaum jemand war sich darüber im Klaren, dass es ... ganz im Norden eine entlegene Ecke gab, wo die Leute Deutsch sprachen.“

Transgenerationale Zerwürfnisse

Gerda trug ihr Schicksal mit perlender Leichtigkeit. Sie bewahrte sich, so dass innere Schönheit ihr royalen Glanz verlieh.

Eva ist die Tochter einer Ledigen. Nach den Gesetzen der Bergwelt gilt ihre Mutter als „Niemand“, da ihr herkunftsfamiliäres Gespinst zerrissen wurde. In den Südtiroler Dolomiten registriert man den Nachwuchs nach einer antiken Klanordnung. Ein uferloses Verwandtschaftsgeflecht konkurriert mit transgenerationalen Zerwürfnissen. In der Handlungsgegenwart verfügt Eva über den höchsten Standard in einer Umgebung, in der ihre Vorfahren bettelarm waren. Evas Mutter, die bildschön geborene Gerda Huber, wuchs unter Geächteten auf, um dann noch mal extra verstoßen zu werden. Gerda trug ihr Schicksal mit perlender Leichtigkeit. Sie bewahrte sich, so dass innere Schönheit ihr royalen Glanz verlieh.

Ich sage das nur, um eine Kontrast hochzufahren.

Capello del Prete*

*Capello del Prete bezeichnet ein Stück des Rindes nach italienischem Schnitt.

Die königliche Gerda verdiente ihren Lebensunterhalt zuerst auf der untersten Stufe der Gastronomieküchenhierarchie. Doch fand ihr Chef so viel Gefallen an Gerda, dass er sie zu höheren Aufgaben heranzog und aus ihr eine Fleischköchin machte. Das erklärt den Titel. Der Koch bringt seiner Helferin die Feinheiten des Filetierens bei. Er lehrt sie das deutsche und das italienische Schlachter:innenvokabular.

Die phantasievollen Namen des Südens: „Da hieß es nicht nur Filet, Nuss, Schulter oder Rippe, sondern auch piccione (Täubchen), cappello del prete (Priesterhut), campanello (Glöckchen) ... piscione (Pisser) ... imperatore (Kaiser) oder manuzza (Händchen).“

Francesca Melandri, „Eva schläft“, Roman, aus dem Italienischen von Bruno Genzler, Verlag Klaus Wagenbach, 432 Seiten, 15,90 Euro

Daran erinnert Eva in Rückblenden, die überschattet werden von der militanten Politisierung dieses deutschen Zipfels am alpinen Rand Italiens. Evas Onkel Peter kommt als Natural Born Killer, passionierter Jäger und Kenner der Schmugglerpfade an der Grenze zu Österreich eine Glanzrolle unter Terrorist:innen zu. Peters Sohn Ulrich bringt schon den Mut auf, sich zu seiner Homosexualität zu bekennen. Der Enkel eines leidenschaftlichen Faschos fährt zum Vergnügen mit der Schneeraupe über Steilhänge, die einst ihre bäurischen Besitzer:innen arm hielten. Während Eva und Ulli einträchtig pubertieren, verdienen sich die Erben der Armen goldene Nasen. Sie vermarkten die unwirschen Flächen als Pisten. Eines Nachts finden Eva und Ulli auf einem besonders schroffen Hang „einen spitzenbesetzten Büstenhalter“. Die Sache gibt ihnen Rätsel auf.

„Die ganze Nacht unterhielten wir uns darüber, ohne eine Erklärung zu finden.“

Eine Abwandlung des Stillens

Die Hand der jugendlichen Mutter ist „rau wie altes Holz“. Ihre Liebe erschöpft sich in einer Abwandlung des Stillens. Zu seiner Stärkung erhält der Sohn „die lauwarme Milch vom ersten Melken am Morgen“ im Gloom einer gleichermaßen archaischen und dürftigen Praxis. Der Berghof wirft nur das Nötigste ab. Mit dem Schaumbart startet Hermann Huber seinen Schulmarsch, der sich über eine Stunde hinzieht. Unterwegs schließt sich ihm Sepp (dem Hermann bald übel mitspielen wird) und Paul an.

Im Roman bricht der Tag als Erinnerung an.

Den Anfang datieren zwei historische Großereignis: eine Übereinkunft von außerordentlicher Tragweite und eine Pandemie. Die Autorin erwähnt den Staatsvertrag von Saint-Germain-en-Laye, der am 10. September 1919 im Schloss der Gemeinde im Département Yvelines unterzeichnet wird. Die Vereinbarung regelt unter anderem die Abtrennung Tirols von Österreich-Ungarn zugunsten des italienischen Königreichs.

„Die Südtiroler (sind) deutschsprachig und (fühlen) sich ... vollkommen heimisch in der österreichischen Donaumonarchie.“

In der der Nacht vom 10. auf den 11. September fallen Hermanns Eltern der Spanischen Grippe im Abstand von drei Stunden zum Opfer. Hermanns älterer Bruder Hans übernimmt das kleine, an einem Steilhang gelegene Anwesen mit allen Rechten des Alleinerben. Drei ältere Schwestern unterwerfen sich den Regimes ihrer Schwiegereltern.

Jeder Starkregen spült die Krume vom Acker. Die Erde muss in Bastkörben aufgelesen und zurückgetragen werden.

Armani statt Armut

Jahrzehnte später kommt die Erzählerin auf Umwegen auf die kargen Verhältnisse in der Grauzone des I. Weltkriegs zu sprechen. Hermann Hubers Enkelin trägt Armani und geht einer weltläufigen Beschäftigung nach. Der Kontrast könnte nicht drastischer ausfallen. Trotzdem stammen Evas Referenzen aus der Bergwelt der Ahnen. Sie hat sich nie daraus verabschiedet. Ihre Wege führen von Überall in ein Tiroler Tal. Da besucht sie auch jener verheiratete Mann, der seit elf Jahren ihr Liebhaber ist.

Eva resümiert bündig das schrecklichste Kapitel ihrer Heimat. Mussolinis Pläne für Südtirol sahen eine lückenlose Romanisierung der Gegend bis zum Brenner vor. Die Leute sollten nicht einmal mehr privat Deutsch sprechen dürfen. Einheimische, für die eine so drastische Italianisierung nicht in Frage kam, durften für das Großdeutsche Reich optieren. Sie wanderten aus, bis der Krieg ausbrach, und die Regelung vergessen wurde. Deshalb blieben viele Migrationswillige an Ort und Stelle. Nach dem Krieg begrüßten sie dann die Zurückkehrenden als Verräter:innen. Die geschlagenen Optanten fanden ihre Häuser und Höfe von Italienern besetzt. Sie ballten sich in einer Art Slum, dem Schanghai aka Revolverviertel aka der Hungerburg. Da wuchs Eva Mutter Gerda unter den Vorzeichen der Ächtung auf. Ihr Vater war als einer der übelsten Faschos, ein Mann fürs Grobe, der mit seiner Scheiße Geschichte schrieb.

„Er beschmierte mit seinen Exkrementen die Türpfosten jener Hofbesitzer, die nicht fortzuziehen gewillt waren“; seinem Klassenkameraden Sepp halb er mit Gewalt auf die Sprünge.

„Sepp überlebte den Überfall.“

Daran rührt keiner mehr in der Gegenwart nach Fünfundvierzig. Zu viele haben Dreck am Stecken, und schließlich muss es weitergehen.

Aus der Ankündigung

»Nur einmal in ihrem Leben konnte sich meine Mutter Gerda der Liebe eines Mannes gewiss sein, und ich der eines Vaters. All die anderen kamen und gingen wie ein Wolkenbruch im Sommer.«

Eva ist Anfang vierzig, als sie einen Anruf von dem Mann erhält, der in ihrer Kindheit eine Zeitlang die Rolle des Vaters einnahm, bevor er scheinbar für immer verschwand: Vito Anania. Er liegt im Sterben und möchte Eva noch einmal sehen. Sie reist mit dem Zug von Südtirol quer durch Italien in den äußersten Süden.
In ihrer Vorstellung entfaltet sich ihre ganze Kindheit in Südtirol: Sie wuchs im Schatten der politischen Verwerfungen einer Region auf, die drei Jahrzehnte lang der Spielball bedrohlicher Allianzen war und dann endlich den Aufbruch in die Autonomie wagte. Doch noch stärker wurde Evas Kindheit geprägt von der Liebe ihrer Mutter, der im Leben nichts geschenkt wurde.

Der Roman einer Provinz ohne Vaterland und eines Mädchens ohne Vater.

Francesca Melandri, geboren in Rom, hat sich in Italien zunächst als Autorin von Drehbüchern für Kino- und Fernsehfilme einen Namen gemacht. Mit ihrem ersten Roman »Eva schläft« wurde sie auch einem breiten deutschsprachigen Lesepublikum bekannt. Ihr zweiter Roman »Über Meereshöhe« wurde von der italienischen Kritik als Meisterwerk gefeiert. Ihr drittes Buch »Alle, außer mir« stand zehn Wochen lang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste.