MenuMENU

zurück

2020-03-01 09:05:22, Jamal Tuschick

Mit siebenundzwanzig avancierte Benjamin Berell Ferencz zum Chefankläger in einem der Nürnberger Prozesse.

Chief Prosecutor

Geboren in Transsilvanien, aufgewachsen in der New Yorker Höllenküche für Einwanderer, ausgebildet in Harvard ...

Eingebetteter Medieninhalt

Geboren 1920 in Transsilvanien, aufgewachsen in der New Yorker Höllenküche für Einwanderer, ausgebildet in Harvard ... Ferencz lernt Amerika in Hell’s Kitchen kennen. Die Nachbarschaft ist hauptsächlich irisch und italienisch. Rivalisierende Banden rekrutieren ihre Mannschaften unter landsmannschaftlichen Gesichtspunkten. Es geht zu wie in „Gangs of New York“.

„When you get all of the Irish together, we don't got a gang, we got an army.“

Ferencz navigiert zwischen den Fronten. Er beteiligt sich an Diebstählen und grillt Gemüse auf dem Bürgersteig. Von schwerwiegender Erwerbsnot angetrieben, lernt er das Überlebensspiel im Mahlstrom von Versuch & Irrtum.

Philipp Gut, „Jahrhundertzeuge Ben Ferencz. Chefankläger der Nürnberger Prozesse und leidenschaftlicher Kämpfer für Gerechtigkeit“, Piper, 345 Seiten, 24,-

Ferencz nimmt zu keinem Zeitpunkt einen übergeordneten Standpunkt ein. Seine Hauptschule ist die „Große Depression“ in der Phase absoluter Hoffnungslosigkeit. Die Leute flanken über die Brüstungen in die Freiheit des Todes.

„Bens Familie bekam die Krise mit voller Wucht zu spüren.“

Ben reißt die desolate Familie mit seiner Begabung aus dem Dreck. Man schickt ihn auf eine Spezialschule: die Townsend Harris High*.

Per aspera ad astra – Aus dem Slum zu den Sternen

„So etwas ist nur in Amerika möglich. Seither bin ich immer ein dankbarer Patriot gewesen.“

*Wo Begabung Trumpf war. Townsend High gründete im 19. Jahrhundert die Free Academy of the City of New York, ein kostenloses Arbeiterbildungsinstitut. Ihm verdankt sich auch die Harvard Schule für Arme, NY-College of the City. Jedes Talent hatte einen anderen Migrationshintergrund. Allgemein war man „rough and tough“, erinnert sich Ferencz in der Überlieferung von Philipp Gut.

Ich überspringe erst mal einiges. Ab 1944 sammelt Ferencz als Soldat Beweise für deutsche Kriegsverbrechen. Er ist der erste mit dieser Angelegenheit befasste US-Army-Angehörige. Im Sommer 1945 übernimmt er Aufgaben eines Richters. Im Winter 1946/47 kommt ihm ein Leitz-Ordner mit SS-Ereignismeldungen aus der UdSSR unter. Die Akten belegen Massenmorde unter der Befehlsgewalt von SS-Reichsführer Heinrich Himmler und dem Leiter des Reichssicherungshauptamtes Reinhard Heydrich. Vier zwischen vier- und fünfhundert Mann starke Gruppen operierten vom Baltikum bis zum Schwarzen Meer. Im Weltanschauungskrieg firmierte die Vernichtung unter dem Titel „politische Sicherheit“. Die Aufzeichnungen erfassen den Auftakt des Unternehmens Barbarossa ab 22. Juni 1941 und „erstrecken sich über einen Zeitraum von zwei Jahren“.

Ben Ferencz ist der Hundertjährige, der Geschichte schrieb. Er jagte SS-Generäle, erstritt Entschädigungen für Opfer des Faschismus, und kämpfte für den Weltfrieden.

Ferencz erhält die Chronik in der Eröffnungsphase des kalten Kriegs. Die Spannung zwischen Amerika und der UdSSR überlagern den Kriegskonsens der ehemals Alliierten. Stalins Bürokraten üben Zurückhaltung bei der Preisgabe von Informationen. Die sowjetische Militärverwaltung schießt quer. Alle durchforsten die zerschlagene Reichshauptstadt nach belastendem Material.

Die Exekutionsbilanzen sind einer Kompilation (in einem untergeordneten Sinn) eingegliedert. „Sie (stehen) scheinbar selbstverständlich neben politischen, ökonomischen, kulturellen und ethnologischen Beobachtungen.“ Die Anzahl der Ausfertigungen ist vermerkt so wie die Kopie-Nummer. Mörderische Feststellungen schließen „die stark musikalisch bestimmte Dorfstruktur“ in der Ukraine ein.

Mit dem Material beschäftigen sich Wissenschaftler*innen Jahrzehnte. Die kanadische Historikerin Hilary Earl veröffentlicht 2009 eine Monografie über den Einsatzgruppenprozess: „The Nuremberg SS-Einsatzgruppen Trial“.

Pressetext

Es war ein Sensationsfund: Der Jurist Ben Ferencz entdeckte nach dem Zweiten Weltkrieg einen Ordner mit minutiös aufbereiteten SS-Ereignismeldungen – eine Chronik des Massenmords. Der daraus folgende Einsatzgruppenprozess in Nürnberg, in dem Ben Ferencz mit gerade einmal 27 als Chefankläger auftrat, gilt als größter Mordprozess der Geschichte. Auch später prägte er wichtige Etappen der Zeitgeschichte an vorderster Front, von der Wiedergutmachungspolitik der BRD bis zum Aufbau des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag. Philipp Gut hat Gespräche mit Ben Ferencz geführt und lässt anhand der Biografie dieses faszinierenden Jahrhundertzeugen die Geschichte des 20. Jahrhunderts lebendig werden.